Anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens unternahm die Evangelische Stadtkantorei vom 5. bis 13. April 2003 ihre bis dato größte Chorreise. Unter dem Titel »Das Wandern ist der Sänger Lust« schrieb Hans Rummel im Gemeindebrief (6–7/03) seinen noch von der euphorischen Stimmung der Reise geprägten Bericht:
Gut 90 Sängerinnen und Sänger der Evangelischen Stadtkantorei Bremerhaven, einschließlich sechs Kinder des Kinderchores, einige Familienangehörige und als Konzertorganist Folker Froebe hatten sich unter der Leitung der Kreiskantorin Eva Schad ein ganz besonderes Programm für die diesjährige Jubiläumskonzertreise ausgesucht: acht Konzerte an acht Aufenthaltstagen auf Mallorca. Anfängliche Zweifel, die ›Ballermann-Mischkultur‹ der Insel sei wohl doch nicht der rechte Ort für ›musica sacra‹, wurden von dem begeisterten Organisationsteam Eva Schad und Folker Froebe rasch zerstreut, und so wurde diese ›Konzertreise in den Frühling‹ ein Ereignis.
Gottesdienste, bei denen das Konzertprogramm spontan an die jeweilige Gottesdienstordnung angepasst wurde, so am Sonntag nach der Ankunft bei den deutschen Gemeinden auf Mallorca in Arenal und Paguera und am Abreisetag zur Palmsonntagsmesse in der Kathedrale von Palma, rahmten die Reise. Dazwischen lagen Tage, die nicht nur konzertante Höhepunkte bescherten, sondern auch auf vielen Wanderungen im Norden und Osten der Insel die ganze Großartigkeit einer faszinierenden Berg- und Inselwelt unter der wärmenden Mittelmeersonne offenbarten: eine Pflanzenwelt ganz eigener Prägung von Alpenveilchen, Flechten und Orchideen in der Höhe bis zum vielhundertjährigen Ölbaumhain und den berauschend duftenden Orangenpflanzungen in Blüte und Frucht zugleich im Tale; Zeugnisse einer langen Geschichte von Eroberung und Widerstand in Wachtürmen, Klöstern und Kirchen, in Herrenhäusern, Trutzdörfern, einer stets verteidigungsbereiten Hauptstadt; kulinarisch gleichermaßen eine Entdeckungsreise vom urigen Bauernlokal auf dem Lande bis zum uralten Keller in der Stadt, von Tumbet und Meeresfrüchten zu Spanferkel und Lamm und schließlich zum unglaublich opulenten siebengängigen Abschlussbankett im klassischen Restaurantsaal; am Rande, jedoch gezielt, Kulturaperçus von Chopin mit Georges Sand bis zu Gaudi und Miró. Auch Strand, Sand und Muße kamen nicht zu kurz, allenfalls der Schlaf, denn die spanischen Tagzeiten – Konzertbeginn 21.30 Uhr und danach dann das Abendessen! – waren für manche gewöhnungsbedürftig.
Die höchst unterschiedlichen Bedingungen der Aufführungsorte reichten vom Sechssekundennachhall der Renaissancekirche in Santanyí, der ganz neue, verlangsamte Tempi verlangte, aber das Singen leicht, zu einem geglückten Genuss machte, bis zur staubtrockenen, eigentlich gar nicht existenten ›Vorstadtkino-Schallschluck-Akustik‹ der nüchternen Kirche in Paguera, wo das Singen anstrengte, zur Kärrnerarbeit wurde. Auch der Orgelpart, den Folker Froebe auf den ebenso wertvollen wie restaurierungsbedürftigen historischen Orgeln spielte, war von Mal zu Mal ein Drahtseilakt zwischen verstimmten Pfeifen, ungewohnten Registern und stets knapper Einspielzeit, der hervorragend und mit Improvisationstalent gemeistert wurde. Einen abschließenden Höhepunkt bildete ohne Zweifel der festliche Palmsonntagsgottesdienst in der Kathedrale von Palma mit über 2000 Gottesdienstbesuchern.
Schließlich waren die von Eva Schad für diese Konzertreise gewählten Vokalstücke ja auch feinste Ohrenschmeichler: Das durchsichtige Kyrie und Agnus Dei aus der lateinischen Messe ›Dixit Maria‹ von Hans Leo Hassler und das doppelchörige, in breiter Punktierung kräftig dargebotene ›Heilig‹ von Mendelssohn trugen dem Messordinarium Rechnung; Passion und Fastenzeit klangen auf in Allegris ›Miserere‹ mit den sich himmlisch hoch verzehrenden Koloraturen der Jungsoprane – besonders anrührend in der Kathedrale von Palma aus deren fernem Hochchor gesungen –, in der schmerzlich schönen lateinischen Motette ›Tristis est anima mea‹ von Kuhnau, in den bekannten Bachchorälen ›Was mein Gott will und Befiehl Du Deine Wege‹, in Melchior Francks vertrauensvoller Motette ›Also hat Gott die Welt geliebt‹. Den Sieg am Kreuz endlich verkündete der romantisch stimmgewaltige Chor in der mächtigen, ungeheuer dynamischen Brucknermotette ›Vexilla regis‹, die durch die Nachhallakustik in Santanyí besonders beeindruckend erklang. Den spanischen Gastgebern schließlich wurde mit dem dort ungeheuer populären ›Ave verum‹ von Mozart und dem gleichermaßen geschätzten ›Alta Trinitá‹ eines Anonymus Reverenz erwiesen. Mendelssohns Motette ›Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten!‹ in ihrer flehenden Diktion und romantischen Dynamik beschloss jedes Konzert.
Hans Rummel