Die Jahre unter Friedrich Wanderslebs Leitung waren nicht nur für die Kantorei und für Bremerhaven, sondern auch für mich selbst sehr prägend. Wie viel konnten wir von ihm und seinem umfassenden Wissen lernen! Sicherlich ist auch der gute Geist im Chor zum großen Teil auf seine Persönlichkeit und sein Vorbild des gelebten Glaubens zurückzuführen. Daher war ich richtiggehend traurig, als wir ihn 1992 in den Ruhestand verabschieden mussten. Zum letzten Mal dirigierte er am 22. März die Bach’sche Johannespassion. Ein paar Tage später organisierte die Kantorei für ihn eine kleine Feier. Nur ungern ließ ich mich überreden, dazu für ihn ein Abschiedslied zu verfassen, das von seinen liebenswerten kleinen ›Schwächen‹ handeln sollte.
Eine lange Ära war zu Ende gegangen. Die Fußstapfen, die Friedrich Wandersleb hinterlassen hatte, waren groß. Wer würde hineinpassen? Mit Spannung verfolgten wir das Ausschreibungsverfahren für die Nachfolge. Die Bewerber, die in die engere Wahl gekommen waren, stellten sich uns im Rahmen einer Chorprobe vor, denn wir hatten ein Mitspracherecht bei der Neubesetzung der Kantorenstelle. Ich sehe die Kandidaten noch vor meinem geistigen Auge und entsinne mich, dass einer gleich hervorstach, dem der Ruf als Improvisationstalent an der Orgel schon vorausgeeilt war: Carsten Klomp. Mit großer Mehrheit wurde er gewählt. Ein Generationenwechsel. Flott und schwungvoll nahm er seine Arbeit bei uns auf und brachte frischen Wind. Dieser wehte alsbald einige ›Altgediente‹ aus unseren Reihen hinaus, sog im Gegenzug aber auch neue Sängerinnen und Sänger an. So blieb auch unter ihm das ausgewogene Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Stimmen erhalten, das immer schon den spezifischen Klang unserer Kantorei ausmachte.
Leider sollte Carsten Klomp uns und der Stadt Bremerhaven schon bald wieder den Rücken kehren, denn neue Aufgaben lockten ihn nach Freiburg. So hieß es nach gut drei Jahren ein weiteres Mal: Kreiskantor und Leiter für die Stadtkantorei gesucht! Wieder setzte das uns nun schon bekannte Procedere ein. Und wieder hatten wir das richtige Gespür für den fähigsten Kandidaten, pardon, die fähigste Kandidatin. Gespannt und erwartungsfroh sahen wir der ersten gemeinsamen Chorprobe entgegen. Wie würde es wohl werden mit einer Frau? Doch die neue Chorleiterin ließ auf sich warten. Erkrankt! Leichte Zweifel wurden schon in unseren Reihen laut. Doch kaum war die Neue da, startete sie auch schon so richtig durch. Es dauerte nicht lange und wir erkannten: Etwas Besseres als Eva Schad hätte uns nicht widerfahren können! Als Energiebündel mit viel Temperament, leicht schwäbelndem Charme, erstaunlichem Elan und Ideenreichtum mischte sie nicht nur unseren Chor auf, sondern binnen kurzem auch die musikalisch-kulturelle Szene der Stadt Bremerhaven insgesamt. Mittlerweile ist Eva Schad auch schon im achtzehnten Jahr bei uns. Manche aus der Kantorei haben gar keine andere Chorleitung kennen gelernt. Das fiel mir schon beim 40-jährigen Chorjubiläum auf, als wir sie vereint mit ihren beiden Amtsvorgängern bei der Aufführung des Bach’schen Weihnachtsoratoriums erleben durften. Bei uns Älteren war die Wiedersehensfreude groß, doch begegneten nicht wenige der Sängerinnen und Sänger den früheren Leitern des Chores zum ersten Mal. Dies zeigt aber auch: Über Nachwuchsmangel haben wir (nicht zuletzt dank Frau Schads strategischer Kinder- und Jugendchorarbeit) nicht zu klagen. Und erfreulicherweise stellen sich immer wieder – meist im Nachklang eines Konzertes – Musikbegeisterte aus Nah und Fern zum Vorsingen ein.
Ich gratuliere der jetzigen Leiterin der Stadtkantorei und ihren Amtsvorgängern, insbesondere dem Chorgründer Friedrich Wandersleb, von ganzem Herzen zum 50-jährigen Bestehen ›ihres‹ Chores. Möge Eva Schad uns noch lange hier erhalten bleiben und möge sie ihre schier unerschöpflich scheinende Energie, Willenskraft und mitreißende Freude an der Arbeit nicht verlieren!
Marita Westphal-Blome – Beitrag zur Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Evangelischen Stadtkantorei Bremerhaven