Dies alles führt mir vor Augen, dass ich als Kantorin eine Tradition fortführe, die vor meinem Geburtsjahr 1967 begonnen hat und seitdem bruchlos fortbesteht. Noch heute singen in der Stadtkantorei Gründungsmitglieder, die als junge Menschen 1963 ihre Liebe zum Singen in den neugegründeten Chor einbrachten, daneben aber auch Jugendliche, die, eben erst der musikalischen Kinderarbeit entwachsen, nun auf einmal bei Bachs h-Moll-Messe in der ersten Reihe stehen. Viele Kirchenchöre leiden an Überalterung – nicht so die Evangelische Stadtkantorei. Sie war von Anbeginn ein generationenübergreifendes Projekt und ist dies bis heute.
Als ich 1995 nach Bremerhaven kam, war mit meinem unmittelbaren Vorgänger, Carsten Klomp, der Generationenwechsel in der Chorleitung bereits vollzogen. Dennoch war Friedrich Wandersleb, der den Chor gegründet und fast drei Jahrzehnte lang, von 1963 bis 1992, geleitet hatte, als prägende Gestalt nach wie vor gegenwärtig (und ist dies in der Erinnerung manch langjährigen Chormitglieds bis heute). Ich war damals 28 Jahre jung und kam frisch vom Studium. Die 29-jährige Weggefährtenschaft Wanderslebs mit seinem Chor schien mir unvorstellbar lang. Heute, 18 Jahre später, wird mir staunend bewusst, dass ich selbst bereits einen entscheidenden Lebensabschnitt gemeinsam mit der Stadtkantorei und ihren Sängerinnen und Sängern verbracht habe, ja, dass ich beginne, meine eigene Zeit mit dem Chor nicht mehr in Jahren, sondern in Jahrzehnten zu rechnen. Mit der Stadtkantorei durfte ich nach meinem Studium alle großen chorsymphonischen Werke das erste Mal einstudieren und aufführen. Aber auch nach knapp zwei Jahrzehnten habe ich meine persönliche Liste der ›aufzuführenden Werke‹ noch immer nicht vollständig abgearbeitet und bislang nur wenige Stücke wiederholt ins Programm genommen. Die Arbeit bleibt noch viele weitere Jahre spannend – für Chor und Dirigentin.
In der Rückschau sehe ich, wie sich im letzten halben Jahrhundert die Rahmenbedingungen der Kirchenmusik verändert haben. So ist die kirchliche Kultur weniger selbstverständlich geworden, während Öffentlichkeitsarbeit und Sponsoring in den letzten zwei Jahrzehnten sehr an Bedeutung gewonnen haben. Wofür die Evangelische Stadtkantorei dennoch seit fünfzig Jahren unverändert steht, sagt programmatisch schon ihr Name: Als ›evangelischer‹ Chor lebt sie in den musikalischen Ausdrucksformen des christlichen Glaubens. Als übergemeindliche ›Stadtkantorei‹ vertritt sie andererseits die kirchliche Kultur inmitten der Vielstimmigkeit höchst unterschiedlicher Kultur- und Freizeitangebote. Wenn die Stadtkantorei singt, dann hat dies tatsächlich Strahlkraft in die Stadt hinein und bis weit ins Umland!
Wer – wie viele Bremerhavener – neidvoll auf die großen Kulturstädte schaut, übersieht leicht die eigenen Vorzüge: Ein Erfolgsmodell wie die Evangelische Stadtkantorei funktioniert am besten in einer Mittelstadt wie Bremerhaven, in der es eben nicht selbstverständlich ist, dass alljährlich zur Adventszeit das Bach’sche Weihnachtsoratorium dreißigmal erklingt (wie etwa in Hamburg), die aber dennoch das kulturelle Zentrum einer ganzen Region bildet. Es ist nicht zuletzt diese privilegierte Stellung, die mir den Freiraum gibt, auch unbekannte oder seltener aufgeführte Werke ins Programm zu nehmen, ohne dass ich fürchten müsste, die Stadtkantorei könnte in der Publikumsgunst sinken. Die Bremerhavener haben in fünf Jahrzehnten gelernt: Sie werden – was auch auf dem Programm steht – ein Konzert der Evangelischen Stadtkantorei nie enttäuscht oder auch nur gelangweilt verlassen!
Das vergangene Jahr 2012 war für die Sängerinnen und Sänger der Stadtkantorei (und auch für mich persönlich) ein Jahr der Höhepunkte, allem voran die Open-Air-Konzerte mit der Carmina Burana im sonnigen Nordenham und im verregneten Bremerhaven sowie die Aufführung des War Requiems von Benjamin Britten zusammen mit dem Jugendchor der Christuskirche, dem Städtischen Orchester Bremerhaven und Generalmusikdirektor Stephan Tetzlaff. Doch nicht allein an solchen Publikumserfolgen misst sich der Wert der Stadtkantorei, sondern auch am Gemeinschaftssinn, an der Motivation und an der mitreißenden Musikalität der über hundert Sängerinnen und Sänger, die Woche für Woche – und darüber hinaus auch für manches Probenwochenende – den Weg in die Christuskirche finden.
Der Erfolg der Evangelischen Stadtkantorei Bremerhaven hat viele Mütter und Väter, und es kommen immer neue hinzu. Der Gründer der Evangelischen Stadtkantorei, Friedrich Wandersleb, schuf in Bremerhaven die Voraussetzungen für eine zukunftsträchtige Kirchenmusikpflege. Zahlreiche ›stille‹ Helfer, übernehmen Woche für Woche ehrenamtliche Dienste, allen voran den Kantoreimitglieder Elke Harksen und Ute Gätje, die sowohl den gesamten Karten- und Notenverkauf durchführen oder überwachen als auch für die Verteilung von Plakaten und Handzetteln sorgen. Kein Kantoreikonzert wäre möglich ohne die Führung der Abendkasse durch ehrenamtliche Helfer unserer Gemeinde und den Podestauf- und -abbau durch die Männer der Stadtkantorei – immer dabei: Jens Schoppenhauer, Klaus Fischer, Peter Wacker, Ulrich Krey und Friedrich Bremer. Daniel Wandersleb schließlich ist es zu danken, dass die Entwicklung des Chores fast lückenlos durch Tonaufnahmen dokumentiert ist und ich jederzeit überprüfen kann, wie beispielsweise die Bach’sche h-Moll-Messe – unser Jubiläumswerk – vor 11 Jahren bei ihrer ersten Aufführung unter meiner Leitung geklungen hat.
Im Namen aller Sängerinnen und Sänger danke ich den Mitarbeitern der Christuskirche, die dem Chor seit fünfzig Jahren eine Heimat geben, dem Kirchenkreis Bremerhaven, dem ehemaligen Superintendenten Ernst Michael Ratschow und unserer jetzigen Superintendentin Susanne Wendorf - von Blumröder für ihre große Unterstützung, den Sponsoren und Förderern unserer aufwendigen Oratorienkonzerte und nicht zuletzt den zahlreichen Zuhörern, die regelmäßig die Gottesdienste und Konzerte in unserer schönen Christuskirche besuchen.
Ob es auch in 50 weiteren Jahren noch eine Chorleiterin (oder einen Chorleiter) der Evangelischen Stadtkantorei Bremerhaven geben wird? Ich stelle mir vor, wie sie (oder er) am Grußwort zum 100-jährigen Bestehen des Chores arbeitet, unsere Worte liest und die Bilder aus unserer Gegenwart betrachtet. Ich kann nur vermuten, als was meine Kollegin aus der Zukunft sie wahrnehmen und empfinden wird: als Zeugnisse einer anderen Zeit und doch vertraut.