Soweit Maarten ‘t Hart. Eine Begegnung mit der Musik, die wir heute hören, die aller verändert hat. Ein Achtjähriger, der singt und pfeift und sich so über alle grauen Seiten des Lebens hinaus aufschwingen, besser noch hinausziehen lassen kann. Das ist es, darum geht es, das ist das Schönste, was es gibt. Übrigens geht bei Maarten ‘Hart die Liebe zu Bach so weit, dass alles andere dagegen völlig untergeht. »Auch so schrecklichen Dingen wir dem Jazz bin ich dank Bach nie anheimgefallen«, schreibt er. Da würde ich nicht mitgehen und mich vielmehr daran freuen, dass wir eine große Breite an Musikstilen haben und gerade darin einen großen Reichtum, der auch sehr verschiedene Menschen ansprechen kann. Wir brauchen in der Kirche auch Bands und Gospelchöre. Und auch die Stadtkantorei zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie ein beachtlich breites Repertoire singt, von Heinrich Ignaz Franz Biber über Händel und Bach, Beethoven, Brahms und Rutter bis zu Paul McCartney.
Aber Bach bleibt einzigartig, keine Frage. So ist es gut und würdig, mit einem Kantatengottesdienst, in dem auch weitere wunderbare Chormusik erklingt, das 60-jährige Bestehen der Stadtkantorei Bremerhaven zu feiern. Ich gratuliere sehr herzlich im Namen unserer Landeskirche und freue mich sehr, nach dem 50-jährigen Geburtstag nun wieder dabei sein zu können. Gern erinnere ich mich an das Fest vor zehn Jahren und besonders daran, wie wir den Gründungskantor Friedrich Wandersleb, der beinahe 30 Jahre die Kantorei geleitet hatte, noch einmal eindrücklich erlebt haben.
Nun also zehn weitere Jahre regelmäßige Freitagabende, gemeinsames Musizieren, Konzerte, Gestaltung von Gottesdiensten, tragende Gemeinschaft, tolle Chorreisen, aber manchmal auch Durststrecken, allemal die schwere Anfechtung der Coronazeit, durch die Sie mit beachtlicher Beharrlichkeit und Kreativität hindurchgekommen sind. Dafür sage ich allen Mitsingenden herzlichen Dank. Ein besonderer Dank gilt natürlich Eva Schad, die nun seit 28 Jahren die Kantorei auf hohem künstlerischen Niveau, mit großem persönlichen Engagement und unglaublicher Energie leitet und dazu alles, was im Umfeld noch stattfindet mit Kinder- und Jugendchören, mit weiteren Chor- und Instrumentalgruppen.
Nun also Bach zum Jubiläum, die großartige Kantate ›Herz und Mund und Tag und Leben‹. Bach hatte sie im Grundstock 1716 in Weimar als Adventskantate geschrieben. Der Text stammte von seinem Juristenfreund Salomon Franck. In Leipzig veränderte und erweiterte Bach die Kantate dann im Jahr 1723 für das Fest Mariä Heimsuchung im Juli, denn im Advent, einer Bußzeit, wurde in Leipzig keine Kantatenmusik aufgeführt. Aber vom Advent zum Marienfest war es ja nicht weit.
Wir hören eine Passage aus dem zweiten Teil der Kantate, die Arie, in der die Trompete und der Bass von Jesu Wundern singen und vom Bund seiner Liebe.
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In den Kantaten, in aller Chormusik verbinden sich ja immer Wort und Musik – und zwar so, dass das, was erklingt, viel mehr ist als die Summe von beidem, sondern gerade so ein neues Ganzes ist, das uns in völlig anderer Weise ergreifen kann als das bloße Wort.
Ich will einen Moment auf die Worte schauen. Wenn man das tut, empfindet man auch die Fremdheit einer vergangenen Epoche. Sprache und Gedankenwelt des Barock sind uns in vielem fremd. Die Warnung, dass Christus im Gericht die verleugnen wird, die ihn nicht recht bekennen – diese Drastik macht Christenmenschen heute Mühe und muss den Glauben auch nicht bestimmen, bedarf in jedem Fall der Auslegung. Auch biblisch kann man über die Rechtfertigung des Menschen aus Gnade und über das Bild vom Menschen manches anders sagen als das 17. Jahrhundert.
Der große Eingangschor aber spricht mich unmittelbar an. Natürlich durch die festliche Musik mit den Trompeten. Aber auch die Worte: »Herz und Mund und Tat und Leben muss von Christo Zeugnis geben ohne Furcht und ohne Heuchelei.« Das ist das Leitthema der Kantate. Die Einladung, unseren Glauben, das Vertrauen auf Christus heute zu bezeugen. Vorbilder sind dafür Maria und Elisabeth, die Mutter Jesu und die Mutter Johannes des Täufers; auf sie und ihr Bekennen beziehen sich die Texte besonders, etwa der berühmte Lobgesang der Maria, den wir auch als Lesung gehört haben. Und immer wieder hüpft und springt die Musik bei Bach, so wie die Kinder im Leib ihrer Mütter hüpfen und springen.
Zum Bekennen will die Kantate anstiften. Und das, wie wir heute sagen, ganzheitlich, mit Herz und Mund und Tat und Leben Also nicht frömmelnd, nicht mit dem bloßen Wiederholen christlicher Formeln, sondern jeder und jede so, dass die eigene Existenz dahintersteht, das eigene Fühlen, Reden, Denken und Tun. Eben Herz und Mund und Tat und Leben. So denke ich, dass Menschen heute auf sehr unterschiedliche Weise ihren Glauben bezeugen können. Durch Worte, durch persönliches Engagement in der Gemeinde oder in der tätigen Nächstenliebe, für Kranke oder Geflüchtete, auch in der Zivilgesellschaft. Und natürlich durch Mitsingen in der Kantorei. Das ist ja eine besonders schöne Form, mit Herz und Mund und Tat und Leben Zeugnis vom Glauben zu geben. Denn Kirchenmusik ist nun einmal eine herausragende Form der Verkündigung, die Menschen tief ansprechen kann. Wenn Bach der fünfte Evangelist ist – dann werden alle, die ihn singen, zu Mit-Evangelisten.
Und dabei gilt von dieser Einladung zum Bekennen: ohne Furcht und ohne Heuchelei. Das finde ich eine sehr moderne Anstiftung, vom Glauben zu sprechen. Einerseits ohne Furcht, ohne dass wir uns dem Druck der allgemeinen Säkularisierung, von der man in Bremerhaven einiges weiß, beugen, dass man vom Glauben und von Religion jedenfalls in der Öffentlichkeit doch besser nicht spricht. Nein – das Zeugnis vom Glauben gehört in die Öffentlichkeit, weil es Menschen guttut. Es ruft die Dimension der Barmherzigkeit wach, die unsere Gesellschaft dringend braucht. Und sie erinnert daran, dass kein Mensch das letzte Maß aller Dinge ist, dass sich kein Mensch über andere Menschen absolut setzen darf. Deshalb ist das Zeugnis vom Glauben wichtig.
Ohne Furcht, aber eben auch ohne Heuchelei. Das, wie gesagt, finde ich modern. Niemand soll glauben oder sagen, wohinter er oder sie nicht steht. Da ist eine große Freiheit darin, die Freiheit der Kinder Gottes. Auch davon hat der Tenor eindrücklich gesungen: O menschliches Geschlecht, du bist befreit. In dieser Freiheit, so glaube ich, sind wir heute gefragt, unseren Glauben zu leben und zu bezeugen – jeder und jede, wie es möglich und ehrlich ist.
Ich stelle mir vor, Johann Sebastian Bach käme zum Gratulieren zur Tür der Christuskirche herein. So angemessen das wäre – ich weiß nicht, ob er mit mir ganz zufrieden wäre. Ist das nicht doch etwas modern-liberal? Auf eins würde Bach jedenfalls bestehen: Es geht nicht um irgendein Bekennen. Es geht nicht um eine allgemeine Religiosität. Es geht um das Vertrauen auf Jesus Christus und um das Bekenntnis zu ihn. Es geht um den, wegen dessen die christliche Religion entstandenen ist, es geht um Jesus, der vom Reich Gottes gepredigt hat, der er durch sein Handeln Gottes Liebe erfahrbar gemacht hat, es geht um den Gekreuzigten und Auferstandenen, der Gottes Liebe gerade im Scheitern und im Leiden erfahrbar gemacht hat.
Da ist Bach sehr klar, und dem dient seine Musik: »Herz und Mund und Tat und Leben muss von Christo Zeugnis geben ohne Furcht und Heuchelei, dass er Gott und Heiland sei.« Das aber nicht als theologische Formel, sondern weil daran hängt, dass wir im Leben und im Sterben von gehalten sind.
Genau das bringt Bach besonders zum Ausdruck in den beiden Choralstrophen am Ende des ersten und des zweiten Teils, die zum berühmtesten und zum schönsten gehören, was die Musik hervorgebracht hat. ›Wohl mir, dass ich Jesum habe‹ – das haben wir schon gehört. ›Jesus bleibet meine Freude‹ – diese Strophe werden wir als Schlusschor in diesem Gottesdienst hören. Das ist es, darum geht es, das ist das Schönste, was es gibt. Beide Strophen bringen ein tiefes Vertrauen in Christus zum Ausdruck, durch den wir gehalten sind im Leben und im Sterben. Wohl mir, dass ich Jesum habe, dass er mir mein Herze labe, wenn ich krank und traurig bin. Eine tiefe Geborgenheit im Vertrauen auf Jesus Christus.
Darüber kann ich jetzt noch lange sprechen. Aber alle Worte bleiben blass und schwach und hilflos gegen das, was Bachs Musik zum Ausdruck bringt, besser: was sie bewirkt. Natürlich, man kann eine ganze Kulturgeschichte schreiben über diese Musik und wie sie verwendet wurde, von Wunschmusiksendungen über Fußgängerzonen bis zu Handyklingeltönen. Aber für mich kann das dieser Musik doch nichts anhaben. Es ist, als ob sie unmittelbar aus der Ewigkeit kommt. Wenn ich diese Musik höre und mich darauf einlasse – dann weckt sie in mir genau diese Geborgenheit in Christus, dann verwandelt sie mich. Und auch für viele Menschen, die mit dem Glauben wenig anfangen können, wird diese Musik zum spirituellen Erlebnis.
Christus bekennen – zu diesem Vertrauen ermutigen. Darauf kommt es Bach an. Weil es den Menschen guttut, in Bachs Worten, weil es der Recreation des Gemüths dient. Und weil alle Musik ein Bekenntnis zur Ehre Gottes ist: »Endlich soll die Endursache aller Musik nichts anderes seyn als nur Gottes Ehre und Recreation des Gemüths.« Dazu möge auch in Zukunft die Musik der Stadtkantorei Bremerhaven dienen. Dafür wünsche ich Gottes Segen.
Amen.
Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy